« Der grosse Bruder will ins Schlafzimmer | Hauptseite | Stellvertreterkrieg Minarettstreit »

Die Rolle der Rechtsstaatlichkeit in einer modernen Demokratie

Meinungsäusserungsfreiheit sei Voraussetzung für das Funktionieren der Demokratie, belehrte uns neulich ein Mitglied des Bundesrates und wollte uns damit weismachen, die Antirassismus-Strafnorm sei abzuschwächen oder gar abzuschaffen. Mit dem Argument, es sei demokratisch, will seine Partei auch Entscheide über Einbürgerungen ausländischer Mitbürger wieder an der Abstimmungsurne fällen lassen – in beiden Fällen verficht die SVP zweifelsfrei das Ideal der Demokratie; eine andere für das Funktionieren unseres Staates sehr zentrale Errungenschaft kommt indes in beiden Fällen unter die Räder: die Rechtsstaatlichkeit.


Rechtsstaatlichkeit bezeichnet das Prinzip, bei dem sich die so genannte öffentliche Gewalt (Polizei, Behörden, usw.) ausschliesslich nach den Gesetzen des Landes richtet, womit sichergestellt wird, dass die Bürger nicht ungleich oder gar nach Willkür behandelt werden. Es kennzeichnet alle freien, demokratischen Länder dieser Erde und unterscheidet sie von absolutistischen Staaten, bei denen die Staatsgewalt von einem häufig autoritär herrschenden Regime alleine bestritten wird. Ein wichtiges Element der Rechtsstaatlichkeit ist das Prinzip der Gewaltentrennung in eine gesetzgebende (Legislative), eine ausführende (Exekutive) und eine richterliche (Judikative) Gewalt.

Genau dieses Prinzip der Gewaltentrennung wird denn auch verletzt, wenn wir an der Urne entscheiden, wer eingebürgert wird und wer nicht. Das Volk, oberster Souverän unseres Landes, wird plötzlich zum Richter und schaltet die Judikative aus. Die Gesuchsteller sind nicht vor Willkür geschützt, die Bürger sind der Versuchung ausgesetzt, sich durch persönliche Ressentiments leiten zu lassen anstatt nach objektiven Kriterien, wie dies eine richterliche Gewalt tun würde. So hat man denn in den Gemeinden, in denen an der Urne über Einbürgerung entschieden wurde auch tatsächlich festgestellt, dass Menschen mit einem „žić“ im Namen eine mehrfach kleinere Chance haben, eingebürgert zu werden, da es ihre balkanische Herkunft verrät, die offensichtlich hierzulande wenig Ansehen geniesst. Derweil wurden andere Menschen der exakt gleichen Herkunft, aber mit weniger entlarvenden Namen und Menschen mit anderer Herkunft oft problemlos eingebürgert. In Anbetracht dieser Tatsache müssen wir uns, so finde ich, schon die Frage stellen, ob diese Methode der Einbürgerung – und sei sie noch so demokratisch – wirklich die richtige sei.

Wenn wir mit dem Gesetz in Konflikt geraten, erwarten wir auch, dass unabhängig und objektiv über uns gerichtet wird und nicht eine Abstimmung unter den Anwohnern durchgeführt wird, um das Strafmass festzulegen. Was an den Haaren herbeigezogen tönen mag, war in Europa bis Mitte des 19. Jahrhunderts üblich: Straftäter wurden an den Pranger gestellt und jeder Vorbeigehende konnte persönlich mit dem Sünder abrechnen. Im Grundsatz eine sehr demokratische Methode – nur eben überhaupt nicht fair oder rechtsstaatlich.

Bezüglich der Meinungsäusserungsfreiheit ist es nur logisch, dass sie dort ihre Einschränkung hat, wo die Freiheit der Anderen beginnt. Ich darf hier nicht die Fäkalsprache bemühen um Regierungsmitglieder zu beschreiben, sonst müsste ich mit einem Verfahren wegen Ehrverletzung rechnen. Daran scheint sich von der SVP niemand zu stören. Mit derselben Logik müsste man doch aber auch akzeptieren, dass ganze Bevölkerungsgruppen, seien es religiöse oder ethnische Gruppen, denselben Schutz vor öffentlicher Verleumdung oder übler Nachrede geniessen. Um diesen Schutz gewährleisten zu können, braucht der Staat eine Rechtsnorm, in der geregelt wird, wie dieser Schutz im Einzelnen auszusehen hat. Nichts anderes ist letztlich unsere Antirassismus-Strafnorm, und daher ist sie für einen modernen, freiheitlichen Staat eminent wichtig.

Was als Genozid zu bewerten sei und was nicht, müssten die Historiker entscheiden, sagte Justizminister Christoph Blocher ohne auszuführen, wie er zu dieser offensichtlich nicht zu Ende gedachten Haltung kommt. Dürften nur Historiker über Geschichte urteilen, könnte auch Carla del Ponte (die Schweizer Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag) nicht mehr weiter Karadžić und Mladić für ihre Verbrechen während des Jugoslawienkonflikts zur Rechenschaft ziehen – internationale Justiz wäre generell kaum mehr möglich. Ein Rückfall in dunkle Zeiten der Vergangenheit, in denen zwischenstaatliche Beziehungen rechtlich weitgehend ungeregelt waren und dementsprechend häufig zu Konflikten führten – bewusst angestrebt vom Justizminister?

Es geht ja im Falle des Völkermords an den Armeniern nicht um eine aktuelle Frage der historischen Forschung, die selbstverständlich durch Historiker zu untersuchen wäre, sondern um von Historikern bereits aufgearbeiteten und unter Historikern überhaupt nicht umstrittenen Völkermord, der nicht geleugnet werden darf. Die Historiker haben also bereits geurteilt und damit ist das Thema nun Sache der Juristen, es sei denn, es tauchen plötzlich neue Quellen auf, die wieder erst durch Historiker begutachtet werden müssten. Mit dem Verweis auf die Meinungsäusserungsfreiheit bewegen wir uns hingegen auf einem ideologischen Level, der uns in dieser Frage nicht weiterbringt – welche Freiheit geht Ihnen als Bürger denn verloren, wenn Sie den Völkermord an den Armeniern (1915 im damaligen Osmanischen Reich) oder jenen an den Tutsis (1994 in Ruanda) nicht mehr öffentlich leugnen dürfen?

Demokratie ist zweifelsfrei eine überaus wichtige Errungenschaft, die geschützt und verteidigt werden muss. Vergessen wir jedoch nicht, dass sie nicht die einzige Errungenschaft ist, die unseren Staat zusammenhält, ihn so erfolgreich gemacht und das Leben in ihm so angenehm gemacht hat. Die Rechtsstaatlichkeit darf unter einer ideologisch gefärbten Auslegung im Prinzip wichtiger Grundrechte nicht leiden, denn die ganze Demokratie nützt nichts, wo infolge Mangel an Rechtsstaatlichkeit Willkür und Korruption herrschen.

Quellen und Links zum Thema:
Blochers Eigenmächtigkeit gerügt (NZZ)
Blocher liess den Bundesrat und das EDA im Dunkeln (NZZ)
Blocher beharrt auf Änderung der Rassismusstrafnorm (NZZ)
Blocher will Genozid-Leugnung legalisieren (NZZ)
Einbürgerungen an der Urne sind verfassungswidrig (NZZ)
Völkermord an den Armeniern (Wikipedia)
Rechtsstaat (Wikipedia)
Die Antirassismus-Strafnorm im Wortlaut (Artikel 261bis Strafgesetzbuch) (admin.ch)

Kommentar schreiben

(Wenn Sie auf dieser Site bisher noch nicht kommentiert haben, wird Ihr Kommentar eventuell erst zeitverzögert freigeschaltet werden. Vielen Dank für Ihre Geduld.)

Über diese Seite

Diese Seite enthält einen einzelnen am 18.10.06 16:43 erschienenen Blogeintrag.

Zuvor erschien in diesem Blog Der grosse Bruder will ins Schlafzimmer.

Danach erschien Stellvertreterkrieg Minarettstreit.

Viele weitere Einträge finden Sie auf der Hauptseite und im Archiv.

Über...