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Die Krux mit dem Föderalismus

Die Schweiz nimmt stolz für sich in Anspruch, eines der föderalistischsten Länder der Welt zu sein. Dennoch kommen laufend neue Vorstösse, die gewisse Themen harmonisieren oder auf nationaler Stufe regeln wollen. Der Grund dafür: „Kantönligeist“, wie übertriebener Föderalismus hierzulande genannt wird, ist teuer und macht vieles kompliziert. Der Ausweg aus diesem Dilemma wäre eigentlich relativ einfach, aber in der Schweiz total tabu.


Als souveräne Staaten, wie in ihren Anfängen, wären die meisten Schweizer Kantone überhaupt nicht überlebensfähig. Würde die Schweiz jedoch zentralistisch wie Frankreich regiert, würde das ein bedeutender Verlust an regionaler Selbstbestimmung bedeuten. Der Föderalismus erlaubt es uns, die Vorteile beider Systeme miteinander zu verbinden und ist – gerade für ein multikulturelles, multiethnisches und multilinguales Land wie die Schweiz – von existentieller Bedeutung.

Doch die Situation hat sich seit der Formierung der Schweiz stark geändert. Die Welt in der wir leben ist globalisiert, die Menschen sind mobiler. So ergeben sich mancherorts Probleme in Bezug auf die Unterteilung unseres kleinen Landes in 26 verschiedene Einheiten. Beispielsweise beim Schulsystem: in einem Kanton wohnen und in einem anderen zur Schule gehen ist mit erheblichem administrativem Aufwand oder gar mit Kosten verbunden. Beim Umzug von einem Kanton in einen anderen entstehen Probleme, da die Unterschiede in den Schulsystemen und Lehrplänen zum Teil riesig sind.

Das Problem ist erkannt, und so ist seit einigen Jahren eine Kompetenzverschiebung weg von den Kantonen hin zum Bund zu beobachten. So hat das Volk erst im Mai dieses Jahres mit der deutlichen Annahme (85.6 % „Ja“-Stimmen) des „Bundesbeschluss über die Neuordnung der Verfassungsbestimmungen zur Bildung“ ein Zeichen in diese Richtung gesetzt. Eine Harmonisierung der 26 verschiedenen Strafprozessordnungen ist zurzeit ebenfalls im Gang. Und am 26. November hat das Volk an der Urne über die Vereinheitlichung der Kinderzulagen zu befinden.

Mit der blossen Verschiebung von Kompetenzen von den Kantonen hin zum Bund wird das Problem jedoch nicht gelöst; bei manchen Fragen ist es durchaus sinnvoll, sie auf kantonaler Ebene zu lösen. Das Problem ist die grosse Anzahl an Kantonen; erst diese macht das System so kompliziert und teuer. Ausserdem haben sich die verschiedenen Kantone derart unterschiedlich entwickelt, dass heute die Bevölkerung des grössten Kantons (Zürich) 82-mal so gross ist wie jene des kleinsten (Appenzell Innerrhoden). Mit seinen 15'000 Einwohnern hat Appenzell Innerrhoden gerade mal so viele Einwohner wie ein durchschnittliches Quartier einer grossen Schweizer Stadt. Diese zum Teil aus dem Mittelalter stammenden Grenzziehungen haben mit der heutigen Realität – der wirtschaftlichen, verkehrstechnischen, schulischen – nichts mehr zu tun.

Die beste Lösung bestünde in der Zusammenlegung kleiner Kantone und der Aufteilung einiger Kantone auf andere. Diese Möglichkeit wird in der Schweiz kaum ernsthaft diskutiert, da sie als faktisch nicht realisierbar gilt. Der Widerstand der Bevölkerung wäre in einigen Kantonen aufgrund der hohen Identifikation mit dem eigenen Kanton zu gross. Doch nur wenn wir von der historisch gewachsenen Struktur etwas Abstand gewinnen und unser Land den veränderten Bedingungen anpassen, können wir auch längerfristig dieses hohe Mass an Föderalismus und regionaler Selbstbestimmung aufrechterhalten, das für den Zusammenhalt unseres multikulturellen Landes so wichtig ist. Andernfalls droht eine immer weitergehende Kompetenzverschiebung hin zum Bund.

Diese Lösung hätte meines Erachtens auch wirtschaftlich positive Folgen, denn die von Kanton zu Kanton unterschiedliche Gesetzgebung bremst auch den inländischen Wettbewerb, was die Schweizer Firmen wiederum im Wettbewerb mit Europa und der Welt schwächt. In Europa hat man erkannt, dass vermehrtes Miteinander alle Beteiligten weiter bringt als ein Gegeneinander. In der kleinen Schweiz sind wir offensichtlich noch nicht so weit. In einem mörderischen Steuerwettbewerb werden die Kantone gegeneinander ausgespielt. In diesem ungleichen Kampf macht jeder Jagd auf die potentesten Steuerzahler und lockt sie mit immer neuen Vorteilen, neuerdings sogar progressiven Steuersystemen, an. Eine ungesunde Entwicklung für den Zusammenhalt, die Gerechtigkeit und die Chancengleichheit in unserem Lande.

Quellen und Links zum Thema
Schweiz (Wikipedia)
Kanton (Schweiz) (Wikipedia)
Politisches System der Schweiz
Föderalismus in der Schweiz (Wikipedia)
Kantönligeist (Wikipedia)
Erläuterungen des Bundesrates zur Volksabstimmung vom 26. November 2006 (Bundeskanzlei)
Erläuterungen des Bundesrates zur Volksabstimmung vom 21. Mai 2006 (Bundeskanzlei)

Kommentare (2)

Pirat:

Interessanter Gedanke, die Kantone zusammenzulegen. Darüber habe ich bis jetzt noch gar nie nachgedacht... Etliche Vorteile - gerade in administrativen Belangen - liegen eigentlich auf der Hand. Dennoch denke auch ich, dass ein derartiges Vorgehen noch für viele Jahre (Generationen?) sehr schwierig bis unmöglich sein wird. Die schweizer Bevölkerung hat seit eh und jeh einen besonderen Willen zum erhalt von Traditionen gezeigt - etwas dass ja nicht durchwegs negativ ist.

Kleine Ergänzung: Der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg hat neulich in der Sendung "Sternstunde Philosophie" die Schweiz als das "einzig übriggebliebene Stück Spätmittelalter" bezeichnet, da die Schweiz eben das einzige Land ist, welches seine Gebietsstruktur nie grundsätzlich verändert hat:
Sternstunde Philosophie, Sendung vom 15.04.2007 (SF)

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Diese Seite enthält einen einzelnen am 15.11.06 18:11 erschienenen Blogeintrag.

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